NS-Verfolgung nach Paragraph 175

Die NS-Verfolgung von Homosexuellen vollzog sich primär über die 1935 in Kraft getretene Verschärfung des § 175 des Strafgesetzbuches (StGB). Während zuvor „widernatürliche Unzucht“ (beischlafähnliche Handlungen) strafbar war, reichte nun bereits ein „wollüstiges Auge“ oder eine Berührung. Die Höchststrafe wurde erhöht.

Die Zahl der Männer, die wegen homosexueller Vergehen verurteilt wurden, stieg ab 1935 rapide. Häufig wurden sie nach Verbüßung der gegen sie verhängten Gefängnisstrafe, manchmal aber auch ohne dass sie gerichtlich verurteilt worden waren, von der Gestapo in „Vorbeugehaft“ genommen und in Konzentrationslager überstellt.

Männer, die aufgrund von § 175 StGB verfolgt wurden und in Konzentrationslager gelangten, wurden durch den Rosa Winkel gekennzeichnet. Dieses Kennzeichen sollte Häftlinge direkt anhand ihres Haftgrundes erkennbar machen, ähnlich wie der Rote Winkel für politische Häftlinge oder der Schwarze Winkel für „Asoziale“. Die Träger des Rosa Winkels befanden sich am untersten Ende der Lagerhierarchie. Sie waren nicht nur der Brutalität der SS ausgesetzt, sondern litten oft auch unter zusätzlicher Isolation und Gewalt durch Mithäftlinge.

Im „Dritten Reich“ wurden über 100.000 Männer polizeilich in Rosa Listen erfasst. In der NS-Zeit ergingen 50.000 Urteile aufgrund von §§ 175 und 175a RStGB. Insgesamt dürften etwa 10.000-15.000 homosexuelle Männer in den Konzentrationslagern inhaftiert worden sein, von denen etwa 53 % ums Leben kamen.

Im Unterschied zu anderen Verfolgtengruppen wurde den homosexuellen Männern nach 1945 jahrzehntelang die Anerkennung als NS-Opfer verweigert. Ursache dafür waren Kontinuitäten der Verfolgung, die lange vor 1933 begann und nach 1945 andauerte. Der § 175 galt in der 1935 verschärften NS-Fassung in der Bundesrepublik Deutschland bis 1969 weiter.

Die wohl verheerendste Folge der nationalsozialistischen Verfolgung war die beispiellose juristische Kontinuität des Unrechts nach 1945, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland (BRD).

Die Schande der Rechtskontinuität in der Bundesrepublik Deutschland (BRD)

Die vom NS-Regime drastisch verschärften Strafvorschriften der § 175 und § 175 StGB blieben in Westdeutschland bis zum 31. August 1969 unverändert in Kraft. Der § 175 StGB war damit eines der wenigen NS-Gesetze, das in der BRD in seiner originalen, verschärften Form beibehalten wurde.

Diese Beibehaltung führte zur systematischen Fortsetzung der Strafverfolgung. Zwischen 1945 und 1969 wurden in der Bundesrepublik schätzungsweise 100.000 Männer in Gerichtsverfahren verwickelt und etwa 50.000 von ihnen verurteilt. Die BRD entschied sich nicht nur gegen eine juristische Korrektur, sondern wandte das Gesetz aktiv an. Die 50.000 Nachkriegsverurteilungen verdoppelten faktisch die Zahl der vom NS-Gesetz geschädigten Leben. Dies demonstriert ein eklatantes Versagen der Justiz, das gesamte nationalsozialistisch radikalisierte Rechtssystem in Bezug auf Sexualdelikte zu entnazifizieren.

Die juristische Legitimierung: Das Urteil des BVerfG von 1957

Der politische Wille zur Aufarbeitung wurde durch eine zentrale juristische Entscheidung weiter blockiert. Am 10. Mai 1957 bestätigte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe die Verfassungsmäßigkeit der NS-Fassung des § 175 StGB. Die Begründung lautete, der Paragraf sei bereits vor 1933 in Kraft gewesen. Dieses Urteil stellte für Jahrzehnte das größte juristische Hindernis für die Rehabilitierung dar. Durch die formelle Legitimierung der NS-Intensivierung von 1935 verhinderte das BVerfG effektiv, dass die NS-Opfer als Opfer von „NS-Unrecht“ anerkannt werden konnten, was ihnen den Zugang zu Entschädigungsleistungen nach den geltenden Gesetzen versperrte. Die jungen Bundesrepublik manifestierte dadurch ihre Ablehnung gegenüber den homosexuellen Opfern, die weiterhin als Kriminelle galten.

Der Prozess der Wiedergutmachung und Rehabilitierung zog sich über Jahrzehnte hin und erfolgte in zwei juristisch getrennten Schritten, die das Unrecht der NS-Zeit und das Unrecht der Nachkriegszeit adressierten.

Die Aufhebung der NS-Urteile (2002)

Nach der einstimmigen Erklärung des Deutschen Bundestages im Jahr 2000, in der die Verfolgung als „typisch nationalsozialistisches Unrecht“ anerkannt wurde, erfolgte 2002 die juristische Korrektur. Mit dem Gesetz zur Änderung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege wurden die Urteile nach § 175 und § 175 RStGB aus den Jahren 1935 bis 1945 aufgehoben und die Verurteilten damit rehabilitiert.

Diese Aufhebung korrigierte die moralische und juristische Ungerechtigkeit der NS-Zeit. Kritisch anzumerken ist jedoch, dass diese Rehabilitierung ausdrücklich nicht für jene Bürger der Bundesrepublik galt, die nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilt worden waren.

Die Rehabilitierung der Nachkriegs-Opfer (StrRehaHomG, 2017)

Die Rehabilitierung der 50.000 Männer, die in der BRD nach dem § 175 StGB (in NS-Fassung) verurteilt wurden, zog sich bis weit ins 21. Jahrhundert hinein. Das Bundeskabinett stellte fest, dass durch die Strafdrohung nach 1945 homosexuelle Bürger in ihrer Menschenwürde verletzt worden waren.

Erst mit dem „Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen“ (StrRehaHomG), das am 22. Juli 2017 in Kraft trat, wurde diese Lücke geschlossen. Das Gesetz ist als formelles Schuldbekenntnis der Bundesrepublik für die Übernahme und Anwendung des NS-Unrechts zu verstehen, das über zwei Jahrzehnte fortgeführt wurde.

Das StrRehaHomG beinhaltete auch Entschädigungsregelungen: Verurteilte erhielten eine einmalige Pauschalzahlung von 3.000 Euro plus zusätzlich 1.500 für jedes angefangene Jahr der erlittenen Freiheitsentziehung.

Zeitleiste der Juristischen und Politischen Anerkennung

JahrEreignisJuristische Konsequenz
1935Verschärfung § 175/175a RStGB (NS-Zeit)Massive Ausweitung der Verfolgung (ca. 53.000 Verurteilungen)
1945–1969Fortgeltung der NS-Fassung in der BRDCa. 50.000 zusätzliche Verurteilungen in der BRD
1957BVerfG-UrteilBestätigung der Verfassungskonformität der NS-Fassung
1969Teilreform BRDEntkriminalisierung für Männer ab 21 Jahren
1994Endgültige Streichung § 175 StGBAbschaffung des Paragraphen in der BRD
2002Rehabilitierung NS-OpferAufhebung der Urteile von 1935–1945
2017Rehabilitierung Nachkriegs-OpferStrRehaHomG tritt in Kraft (Aufhebung Urteile 1945–1994)

NS-Verfolgung jenseits des Paragraphen 175

Während die Verfolgung homosexueller Männer primär über den § 175 StGB erfolgte, waren Lesben und Transpersonen in unterschiedlicher, oft willkürlicher Weise von der NS-Repression betroffen, da die Gesetze zur Homosexualität ausschließlich männliche Handlungen bestraften.

Lesben: Juristische Lücken und die Praxis der Willkür

Sexuelle Beziehungen zwischen Frauen waren im “Deutschen Reich” rechtlich nicht strafbar. Dies bedeutet jedoch nicht, dass lesbische Frauen immun gegen Verfolgung waren. Obwohl der § 175 StGB nicht angewandt werden konnte, gerieten Lesben oft in das Visier der Behörden.

Die Verfolgung weiblicher Homosexualität richtete sich weniger gegen sexuelle Handlungen als gegen die Verletzung der Ideologie der Geschlechterkonformität und der reproduktiven Pflicht. Lesbische Frauen konnten daher als „Asoziale“ (Kennzeichnung: Schwarzer Winkel) kategorisiert und in polizeiliche Vorbeugehaft oder KZ-Haft genommen werden.

Ein wichtiger Unterschied bestand in Österreich: Nach dem „Anschluss“ 1938 blieb dort der österreichische § 129 StGB, der gleichgeschlechtliche Sexualkontakte als „Unzucht wider die Natur“ unter Strafe stellte, aufrechterhalten. Dies ermöglichte die strafrechtliche Verfolgung weiblicher Homosexualität in Österreich.

Transpersonen und Medizinische Gewalt

Die Verfolgung von Transpersonen, die damals oft unter dem Begriff Transvestitismus zusammengefasst wurden, zeigt eine juristische und ideologische Differenzierung.

Bei Männern, die als „homosexuelle“ Transvestiten galten, erfolgte die Verfolgung scharf unter dem verschärften § 175 StGB. Das Tragen von Frauenkleidung konnte das Strafmaß erhöhen oder gar zu einer Empfehlung für die Kastration beitragen. Im Gegensatz dazu gibt es keinen Nachweis für die Strafverfolgung von „heterosexuellen“ Transvestiten – meist verheiratete Männer, die ihre Neigung verborgen lebten und den Homosexualitätsverdacht entkräften konnten – auch wenn ihr Verhalten ideologisch als sittenwidrig galt.

Bei Transvestitinnen, die versuchten, im Alltag als Männer durchzugehen, war der Umgang widersprüchlich und willkürlich. Obwohl die Verfolgung nicht durch § 175 StGB gedeckt war, konnten juristische Sanktionen für das öffentliche Tragen von Männerkleidung von Verwarnungen bis zur KZ-Haft reichen. Die Unterscheidung der Bestrafung basierte auf der ideologischen Frage, ob die Geschlechtsnonkonformität eine Bedrohung für die männliche, reproduktive Linie darstellte. Wenn Nonkonformität mit männlicher Homosexualität zusammenfiel, waren die Strafen drakonisch (Kastration, KZ); war sie davon losgelöst, erfolgte die Verfolgung unkodifiziert und willkürlich über die Kategorie der „Asozialität“.

Pseudowissenschaftliche Forschung und Zwangsmaßnahmen

Die NS-Medizin spielte eine zwiespältige Rolle. Obwohl erbbiologische Forschungen zur Homosexualität weitergeführt wurden, verlor die psychiatrische Definition der Homosexualität als Krankheit während des Nationalsozialismus paradoxerweise an Bedeutung zugunsten der Definition als „verbrecherisch“. Nichtsdestotrotz wurde die Medizin für eugenische Zwecke instrumentalisiert. Homosexuelle Männer in Konzentrationslagern wurden Zwangsmaßnahmen unterzogen, einschließlich Kastration und medizinischen Experimenten.